Können wir den Kindern ihre Freiheit zugestehen?

„Dein Kind sei so frei es immer kann. Lass es gehen und hören, finden und fallen, aufstehen und irren.“ J.H. Pestalozzi

Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, dann spielte sich diese meist draußen ab. Wir streunerten durch die Büsche, kletterten auf Bäume, spielten verstecken zwischen den Garagen auf dem Hof oder überwanden unsere Ängste und gingen auf Entdeckungsreise durch alte Ruinen.

All das taten wir natürlich ohne Eltern oder anderen Erwachsenen. Im Gegenteil, wir verbrachten die meiste Zeit in Kindergemeinschaften von Nachbarkindern, Freunden oder Verwandten. Wir waren alle unterschiedlich alt, die einen jünger, die anderen älter.

Wir kamen entweder nach Hause, wenn wir Hunger bzw. Durst hatten oder die Straßenlaternen angingen.

Natürlich verbrachten wir auch Momente draußen, die von unseren Eltern oder Großeltern begleitet wurden. Aber wie gesagt, die meiste Zeit konnten wir unsere Freiheit unbeobachtet draußen genießen und das war auch gut so, denn wie hätten wir unter den Augen unserer Eltern unsere eigenen Grenzen und Ängste erproben können. Sie hätten es wohl nie zugelassen und uns viele Verbote erteilt, nur um uns zu beschützen.

Genau auf diesen wichtigen Aspekt der kindlichen Entwicklung gehen der Neurobiologe Gerald Hüther und der Kinderarzt Herbert Renz-Polster in ihrem Buch  „Wie Kinder heute wachsen – Natur als Entwicklungsraum“ ein.

Heute stehen die Kinder viel zu sehr unter Beobachtung, ob in der Kita oder gemeinsam mit den Eltern auf dem Spielplatz. Immer sind die Erwachsenen dabei, um ja ihre Kleinsten zu behüten und zu beschützen. Wann jedoch geben wir den Kindern die Zeit und den Raum sich frei und unbeobachtet, aber vor allem auch in unstrukturierten Räumen zu entfalten? Natürlich schreien gleich viele auf und reden von zunehmenden Gefahren, gar der Aufsichtspflicht usw.!

Es gibt viele Gründe dagegen, die bei diesem Anspruch an Freiheit angeführt werden, auf welche ich erst im späteren Verlauf genauer eingehen werde, auch in Bezug auf die Rechtsgrundlage für Pädagogen.

Zuerst möchte ich jedoch einige wichtige Aspekte der kindlichen Entwicklung sowie die wunderbaren Vorteile, die der Aufenthalt in der Natur mit sich bringt, anführen:

„Der junge Mensch […] braucht seinesgleichen –  nämlich Tiere, überhaupt Elementares: Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum.  Man kann ihn auch ohne dies alles aufwachsen lassen, mit Stofftieren, Teppichen, auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es, doch soll man sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr lernt, wie z. B. ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative.“ Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich (1965, S. 24f.)

Folgende wichtige Aspekte bringen Gerald Hüther und Herbert Polster-Renz (2013) an:

  • Zu 99 % der Menschheitsgeschichte war die Natur Alltagskulisse, d.h. ein Großteil der Kindheit spielte sich draußen ab.
  • Kinder verbrachten noch bis vor ca. 50 Jahren die meiste Zeit mit Kindern unterschiedlichen Alters in selbstorganisierten Gruppen.
  • Das Leben draußen steckt den Kindern noch in den Adern sowie z.B. das Spielen mit Stöckern.
  • Die Natur ist weder reizarm noch überreizt, dies passt hervorragend zu der kindlichen Reaktions- und Aufmerksamkeitspanne.
  • Kinder sind immer auf Streifzug, denn sie wollen wirksam sein.

„[…] wie man Schwimmen nur im Wasser lernen kann, so kann man Lebensmut nur lernen, wenn man die Angst berührt.“  Pädagoge und Märchenerzähler Heinrich Dickerhoff

  • Kinder suchen nach Neuem und zugleich nach Kontinuität – beides wird von der Natur geboten
  • Studien verweisen darauf, dass Kinder ein kreativeres Spiel entwickeln, wenn sie in einem unstrukturierten und natürlichen Umfeld spielen.
  • Eine komplexere Umwelt, fördert die verschiedensten Kompetenzen.
  • Kinder erfinden draußen ihr eigenes Spielzeug, denn alles dort draußen erscheint wie Spielzeug. (wenn wir sie denn lassen)
  • Kinder erfahren in der Natur zugleich Freiheit und Grenzen, denn die Natur interessiert sich nicht für unsere Wünsche.
  • Kinder wollen draußen Beziehungen leben und erfahren, Beziehungen zu belebter Natur (Bäume, Tiere, Pflanzen usw.) sowie unbelebter Natur (Steine, Stöcker usw.)
  • Kinder brauchen eine Umwelt, in der sie ihre Entwicklungsbedürfnisse (körperliche, seelische und soziale) ausleben und stärken können.
  • Die Natur dient den Kindern ebenso als emotionale Stütze.
  • In einer Studie, durchgeführt von 1970 bis 1990, wurde nachgewiesen, dass sich der Aktionsradius, in dem Kinder frei spielen und entdecken dürfen, auf ein Neuntel zurück gegangen ist.
  • Kinder, die sich draußen ausleben können, sind weniger verletzungsanfällig, denn Kinder müssen Risiken einschätzen lernen, indem sie auch welche eingehen dürfen
  • Kinder werden heutzutage domestiziert.

„Es läuft etwas falsch in einer Gesellschaft, die so viel Geld und menschliche Arbeitskraft investiert, um die banalsten Informationsfetzen für jedermann im letzten Winkel der Welt zugänglich zu machen und so gut wie nichts dafür tut, dass wir die Welt auf eigene Faust erforschen.“ Umweltpsychologe Edward Reed

Ulrich Gebhard (1998) führte schon damals an, dass Kinder in ihrem Spiel sowie Forscher- und Entdeckerdrang auch mal Pflanzen zerstören, in dem sie z.B. Blumen pflücken oder auch Stöcker abreißen, „jedoch die Natur hält die Nutzung wohl aus“.

Auch ich war noch vor einigen Jahren in meiner Tätigkeit als Pädagogin der Meinung, dass Kinder nichts abreißen sollen, um die Natur zu schützen und zu achten. Doch kam ich dann zu der Ansicht, die Kinder einfach machen zu lassen und darauf zu setzen, dass die Kinder damit positive Naturerfahrungen verbinden und diese in späterer Erinnerung wiederum dazu führen, dass man die Natur schätzt und beschützt.

„In einer unter Regulativen von Eltern und Betreuern stehenden Welt […] bleiben Eigenschaften auf der Strecke, wie wir sie gemeinhin mit gelungenen Menschen verbinden. Zu diesen Eigenschaften gehören […] Autonomie, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, das meistern von Risiko, Phantasie und Kreativität, schöpferisches Denken und spontane Bezogenheit zu Menschen und anderen Wesen in der Welt. […] Es sollte uns zu denken geben, dass wir die genannten Qualitäten zwar fordern, dass wir aber die Felder, auf denen Kinder von allein zu ihnen finden, zunehmend blockieren: die von selbst auflebende Natur, das freiheitliche Spiel in der Wildnis, die ungeplante, ungesteuerte Zeit.“

Andreas Weber, Autor von „Mehr Matsch! Kinder brauchen Natur“ (2012)

 

Zusammengefasst –  was brauchen Kinder:

In der Theorie klingt es natürlich auch immer einfacher, als es in der Realität am Ende sein mag. Oft stelle ich mir die Frage wie viel Freiheit und Vertrauen kann ich den Kindern zugestehen. Oft halte ich Inne, ermahne mich, wie ich doch als Kind die Freiheit genossen und meinen Spieldrang ausgelebt habe. Doch als Erwachsener plagen mich oft die Ängste, was ist, wenn das Kind sich verletzt, verschwindet, wegrennt o.ä. Hinzukommen, der gesellschaftliche Druck, der anders Denkenden, die Eltern, die Träger, die persönliche Verantwortung und das Wissen, um das, was alles passieren kann.

 

Wie nun also damit umgehen?

Liebe Eltern, liebe Pädagogen,

in erster Linie liegt jede persönliche Vertrauensbasis und Aufsichtspflicht immer im ermessen jedes Einzelnen. Denn jeder muss sich seiner eigenen Verantwortung bewusst sein. Jedoch ist anzumerken, dass gerade unsere Ängste nicht nur auf die Kinder projektziert werden, sondern auch verhindern, dass sie sich in ihrem evolutionären Spiel-, Entdeckungs-, Forschertrieb so entwickeln können wie es für sie richtig ist.  Wie sollen sie denn mit Gefahren umgehen lernen, wenn sie keine eingehen dürfen? Ich neige auch dazu beschützen zu wollen, doch es ist viel besser, wenn Kinder sich selbsteinschätzen lernen.

Kinder leben heute weniger gefährlich als früher, sie werden deutlich weniger entführt oder misshandelt. Auch der immer wieder befürchtete Zeckenbefall der Krankheiten übertragen kann, hält sich in Grenzen. 40 Fälle bei unter 15-jährigen/Jahr und nur bei 10 Fällen/Jahr ist das Nervensystem betroffen. In der Regel ist der Verlauf mild und ohne ernsthafte Komplikationen. Bei jedem 20igsten Kind lassen sich bereits Borreliose-Erreger im Immunsystem nachweisen, jedoch in nur einem von 10 Fällen wird der Erreger vom Immunsystem nicht unschädlich gemacht und dann ist meistens  nur die Haut betroffen.  (vgl. Renz-Polster & Hüther, 2013)

Im Vergleich wird hingegen jedes 30igste Kind in seiner Kindheit eine Computer-Spiel-Sucht entwickeln. Jedes 15. Kind wird unter Übergewicht leiden und jedes 10. unter seelischen Störungen. (vgl. Renz-Polster & Hüther, 2013)

Ebenso weist der Erziehungswissenschaftler und Psychoanalytiker für Kinder und Jugendliche daraufhin, dass das ‚Sitzen‘ schwerwiegendere Folgen haben wird, als das freie Spielen in der Natur: Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt sowie Vitamin D – Mangel. (vgl. 2013)

So viel zu den Gefahren, jedoch gibt es ja auch noch ein Gesetz zur Aufsichtspflichtverletzung.

In meiner Arbeit habe ich oft erlebt, dass die meisten Kollegen doch sehr ängstlich sind und die Kinder, in jeder Sekunde im Auge behalten wollen, stetig und überall stehen die Kinder unter Beobachtung. Natürlich verstehe ich Argumente wie z.B. aber die Eltern schimpfen schon über jede kleine Schramme und zudem unterliegen wir der Aufsichtspflicht, uns sind also die Hände gebunden. Sie verweisen darauf, dass die Eltern gerne den Kindern diese Freiheit zugestehen sollen, jedoch nicht wir als Pädagogen, dieses Risiko wollen wir nicht eingehen.

Das Problem ist nur, dass ein Großteil der Kinder, sehr viel Zeit in der Kita verbringt und dann nur noch wenig Freizeit mit Eltern verbleibt, in der sie ihrem Drang nach Freiheit nachgehen könnten.

 

Wie sieht es von gesetzlicher Seite aus?

Da ich nun Pädagogin und kein Anwalt bin, sind die folgenden Aussagen ausschließlich Ergebnis meiner Recherche-Arbeit.

In der pädagogischen Arbeit unterliegen wir der Personensorge (§1631 Abs.1 BGB) die durch den Vertrag mit dem Träger auf diesen übertragen werden, der wiederum die Personensorge auf seinen Mitarbeitern, also den Pädagogen überträgt.

Die Aufsichtspflicht beinhaltet, dass die ihnen anvertrauten Personen:

  • Keinen Schaden erleiden
  • Anderen keinen Schaden zufügen
  • Durch andere nicht gefährdet werden dürfen.

Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass es keine unmittelbare Rechtsgrundlage gibt, die den Umfang oder den Inhalt der ordnungsmäßen Aufsichtsführung regelt. Gesetzlich geregelt sind hingegen die Rechtsfolgen einer Verletzung der Aufsichtspflicht.  (vgl. Juraforum, 2017)

Das Ausmaß der Aufsicht hängt auch von verschiedenen Bedingungen ab:

  • Alter des Kindes
  • Reifezustand des Kindes
  • Charakter des Kindes
  • Erfahrungszustand des Kindes
  • Äußere Rahmenbedingungen wie Gefährlichkeit der Umgebung

Zusammengefasst ist also die Aufsichtspflicht jederzeit situationsabhängig und wie folgt zu regeln:

  • Informationspflicht
  • Konkrete Führung der Aufsicht
  • Eingriffspflicht

(vgl. Juraforum, 2017)

Kommt es zu einer Aufsichtspflichtverletzung, kann dies zivil-, straf- oder arbeitsrechtliche Folgen haben.

„Das Amtsgericht München hat beispielsweise geurteilt (AZ 262 C 20011/06), dass nicht zwingend eine Verletzung der Aufsichts­pflicht vorliegt, wenn ein Kind in der Kita über ein Spielzeug stolpert und sich dabei verletzt. Dies könne auch unter das allgemeine Lebens­risiko fallen.“ ( vgl. Advocard, 2016)

 

Fazit

Nun hatte ich gehofft, dass das verstehen der Gesetzesgrundlage zur Aufsichtspflicht mehr Klarheit und Entspannung bringen würde, damit die pädagogische Arbeit vielleicht weniger ängstlich verläuft. Doch für mich persönlich, gab es diese Offenbarung nicht. Dennoch möchte ich versuchen, dass die Kinder Freiräume erfahren dürfen. Wie bereits am Anfang dargelegt, liegt es in jedem persönlichen Ermessen und der eigenen Verantwortung wie viel Vertrauen und Freiheiten man den Kindern entgegenbringt.

Hierzu, noch folgende Anregung, die mich schon während meines Studiums von dem Pädagogen und Kinderarzt Janusz Korczak aus seinem Buch „Wie man ein Kind lieben soll“ zur Selbstreflektion bewegten (mehr Informationen unter Die Rechte der Kinder -Janusz Korczak):

„Ich fordere die Magna Charta Libertatis, als ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt es noch andere – aber diese drei Grundrechte habe ich herausgefunden:

  1. Das Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod
  2. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag
  3. Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist.“

Wenn ich mich an mein Heranwachsen erinnere, habe ich alle Risiken, die ich als Kind eingegangen bin ohne schwere Verletzungen oder bleibende Schäden überlebt. Ich habe, während ich mit Stöckern gekämpft habe, mir oder anderen nie ein Auge ausgestochen. Ich habe mir vielleicht einige Kratzer zugezogen oder den Fuß geprellt, sicherlich sind viele Tränen geflossen, aber am Ende habe ich aus diesen unzähligen ‚wilden‘ Erfahrungen meine persönlichen Grenzen kennengelernt, meine Kompetenzen gestärkt und meine Freiheiten ausgelebt.  Ich bin daran gewachsen.